Pilze ernten (by a-core)

 

Manjek konnte den Stil des Pilzes gerade so mit seinen Händen umfassen. Anhand der Beschaffenheit der Oberfläche erkannte er genau, dass er gut für Kleidungsstücke geeignet war. Mit einer kräftigen Drehung nach links und einem Ruck nach rechts riss er den schweren Pilz aus dem Boden.

 

Manjek musste daran denken, daß er ohne seiner Kenntnisse der Pilze längst der Wiederverwertung zugeführt worden wäre. Wie Dana... Auch sie hatte ein Makel gehabt. Ihre linke Körperhälfte war verkrüppelt gewesen. Nachdem sie die Geschlechtsreife erreicht hatte und noch immer nicht zu erkennen war, welche Vorteile ihr Weiterleben für das Dorf hätte, wurde ihr Schicksal besiegelt: Dana wurde der Wiederverwertung zugeführt. Das war jetzt bestimmt 30 Schlafperioden her.

 

Etwa 25 Schritte von ihm entfernt lagen ihre Überreste im knöchelhohen Wasser. Er konnte den Leichnam nicht sehen, denn um ihn herum herrschte absolute Dunkelheit. Manjek war seit seiner Geburt blind. Dies war sein Makel. Doch durch seine Vertrautheit mit dem Wesen der Pilze, die der Hauptlieferant für so ziemlich alles waren, was sein Dorf zum Leben benötigte, war er zu einem wertvollen Mitglied für die Gemeinschaft geworden.

 

Am Anfang konnte er noch den Verwesungsgeruch wahrnehmen, wenn er in die Pilzgrotte kam, doch jetzt hatte er sich an den Geruch gewöhnt oder der Duft der Pflanzen überlagerte den Gestank. Aus Danas Körper würde bestimmt bald ein besonders großer Pilz wachsen.

 

Manjek arbeitete alleine in der großen Grotte, die ein gutes Stück abseits seines Dorfes gelegen war. Ab und zu vielen Wassertropfen von der Decke, deren Aufprall auf der Wasseroberfläche er schon gar nicht mehr wahrnahm. Höchstens wenn er selbst getroffen wurde, zuckte er noch leicht zusammen.

 

Manjek hörte ein lautes Platschen im Wasser. Jemand näherte sich ihm. Die Geräusche kamen aus der dem Dorf entgegengesetzten Richtung. Er registrierte ein Knistern und plötzlich schossen grelle Blitze von seinen Augen in sein Gehirn. Was war das? Von einem Moment auf den anderen hatte er das Gefühl, dass Reize von seinen Augen zu seinem Gehirn weitergeleitet wurden. Das konnte doch gar nicht sein! Und dennoch ”sah” er rotgelbe Punkte auf ihn zukommen. Verwirrt wie er war, konnte er gar nicht mehr reagieren, als die Hände ihn packten. Das kurze Aufbäumen wurde mit einem Schlag auf seinen Kopf beendet. Die gewohnte Schwärze umhüllte ihn wieder, doch diesmal war es eine Ohnmacht.

 

”Wach endlich auf!”

Eine tiefe weibliche Stimme drang an sein Ohr und ließ seinen Schädel fast zum Platzen bringen. Manjek öffnete seine Augen und hatte natürlich erst einmal Schwierigkeiten, die neuen Wahrnehmungen zu verarbeiten.

”Wurde auch langsam Zeit, daß der Herr Langschläfer mal zu sich kommt”, meinte die Frau. Er konnte ihre Worte zwar verstehen, aber sie sprach mit einem ihm unbekannten Akzent.

”Wo bin ich hier hingeraten und wer bist du?” fragte Manjek.

”Noch keine Minute wach und gleich so viele Fragen!” entgegnete die Frau. ”Ich heiße Mirkala und wo wir hier gelandet sind, weiß ich selbst nicht genau. Die Olympier haben uns geschnappt.”

Manjek betrachtet die Frau im flackernden Licht einer einsamen Fackel an der Wand. Sie wirkte noch jung, hatte kurze braune Haare, einen schlanken aber muskulösen Körper und ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Ob Mirkala als schön einzustufen war, konnte er nicht beurteilen, schließlich ”sah” er zum ersten Mal eine Frau.

”Und, bist du zufrieden mit dem, was du siehst?” verhöhnte sie ihn.

Bevor er antworten konnte, wurden sie von einem Gestalt in brauner Kutte, die durch einen breiten Gürtel zusammengehalten wurde, gestört. Der Olympier hatte sich ihnen unbemerkt genähert und riss Manjek vom Boden hoch. An seinem Gürtel hing eine Holzkeule, deren Spitze mit Nägeln bespickt war. Aber auch ohne die Waffe erweckte er den Eindruck, als könnte er Manjek mit bloßen Händen in der Luft zerreißen. Er deutete auf Mirkala, machte mit Zeigefinger und Daumen seiner linken Hand einen Kreis und klopfte mit der Flachen Rechten mehrfach auf diesen Kreis.

”Kann der nicht sagen, was er von uns will?” murrte Manjek.

”Erstens versteht er uns nicht und zweitens scheinst du wirklich schwer von Begriff zu sein”, entgegnete Mirkala. ”Er will, dass du mir ein Kind machst. Du weißt doch wie das geht, oder?”

Jetzt wusste Manjek gar nicht mehr, was er von dieser Situation halten sollte.

”Die Olympier kriegen nichts mehr auf die Reihe”, erklärte Mirkala. ”Und deshalb entführen sie Fremde, die für sie die Kinder austragen.”

”Und dann?” wollte Manjek wissen.

”...sind wir wertlos und werden gefressen!” vollendete Mirkala. ”Darauf lege ich aber keinen Wert und deshalb werde ich den Burschen jetzt ablenken. Du schlägst ihn nieder, sobald er nicht mehr richtig aufpasst.”

Bevor Manjek richtig begriffen hatte, was Mirkala eigentlich vorhatte, fing sie schon an, sich ihrer Kleidung zu entledigen. Wie sie richtig vorhergesehen hatte, reagierte der Olympier mit stierenden Blicken auf ihren entblößten Oberkörper. Manjek wusste, daß er schnell reagieren musste. Er riss sich los und umfasste von hinten den Kopf des Gegners. Noch ehe dieser sich wehren konnte, hatte Manjek den Kopf auf den Rücken gedreht. Das Krachen der Knochen bewies ihm, dass er Erfolg gehabt hatte. Der Olympier brach tot zusammen.

”Du hast wirklich Kraft”, stellte Mirkala fest, ”eigentlich solltest du ihn nur flachlegen, aber um die Olympier ist es nicht schade.”

”Das war gar nicht schwer. Es ist so ähnlich wie Pilze ernten.”

”Das musst du mir später genauer erklären, aber jetzt sehen wir zu, daß wir von hier verschwinden.”

 

Sie verließen den Raum, durch eine offenstehende Türe und gelangten durch mehrere düstere Gänge ungehindert an die Oberfläche. Das Sonnenlicht blendete Manjek, obwohl eine dicke Staubschicht seit Jahrhunderten keinen Sonnenstrahl direkt auf die Erde durchgelassen hatte. Über ihren Köpfen bewegte sich träge ein Schild im Wind. Es war fast komplett verwittert, aber Mirkala konnte dennoch lesen, was darauf stand: ”Olympiastadion”

”Was ist Olympiastadion?” fragte Manjek.

”Ich kann es dir nicht erklären, aber wir nennen die Olympier danach. Ich glaube, es hat etwas mit diesem unheimlichen, runden Gebäude mit dem seltsam geschwungenen Dach zu tun. Lass uns jetzt endlich von hier abhauen, bevor noch mehr Olympier auftauchen. Willst Du zurück zu deinem Volk?”

”Auf keinen Fall, dort zieht mich nichts mehr hin, da war es mir entschieden zu dunkel! Ich gehe lieber mit dir”, meinte Manjek.

”Gut, dann auf zum Hofbräuhaus!”

 

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